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Wohnen in Bischkek – die WG im anderen Land

Bischkek ist mit 145 Jahren eine noch relativ junge Stadt und erfährt seit einigen Jahren einen starken Zuzug, besonders von jungen Menschen. Landflucht aus verschiedenen Gründen: Um alten konservativen Ansichten und Regeln zu entkommen, Zugang zu Schulen und Universitäten zu haben oder einen Arbeitsplatz in der Hauptstadt zu finden. Urbanisierung und die wachsende Bevölkerung (die durchschnittliche Geburtenrate liegt Stand 2023 bei etwa 3,0) bringen Probleme mit sich. Insbesondere fehlt Wohnraum. Der Wohnungsmarkt ist überlastet und Wohnungen für hiesige Verhältnisse sehr teuer. Auch muss man aufpassen nicht an Schein-Makleragenturen zu geraten. Man bezahlt eine Gebühr, erhält aber keine Leistung. Durch die Flüchtlingswellen aus Russland schnellten letzten Herbst die Mieten über Nacht in die Höhe (schnell mal 25% mehr). Das kam auch bei meiner WG, abends erschien der Vermieter und kündigte die Erhöhung für den nächsten Monat an. Alles möglich in einem Land, in dem feste Mietverträge eher die Ausnahme sind. Die hohen Mietpreise sind geblieben, obwohl die Flüchtlinge größtenteils wieder weitergereist sind.

Leben in einer Wohngemeinschaft. Nach einer erschreckenden Vielzahl an Gruselgeschichten über muffelige Wäsche, schmutziges Geschirr in der Küche und vergessenem Müll, habe ich der Zeit mit Vorsicht entgegengeschaut. Zudem Gedanken über kulturelle Unterschiede und Grenzen einer multi-kulti Gemeinschaft. Aber es war alles anders.

Von September bis Januar lebte ich in einer Wohngemeinschaft im Süden Bischkeks mit drei Jugendlichen – eine reine Mädchen-WG. Anders hier in Bischkek auch nicht akzeptabel. Tadschikinnen, die der (verfolgten) Minderheit der Pamiri angehören und an der amerikanischen Universität in Bischkek studieren. Als Muslime haben sie einen Imam – einen Mann dessen Lehren sie (nur bedingt) als Wegweiser betrachten. Und als Angehörige des ismaelitischen Islam (nicht sunnitischen) leben sie mit relativ viel Freiheiten. Außer beim Gebet müssen sie sich nicht verhüllen oder eine Kopfbedeckung tragen. Ganz im Gegenteil, sie kleiden sich wie alle anderen Jugendlichen hier in Bischkek, wobei Nike, Adidas und andere mir unbekannte Marken eine wichtige Rolle spielen.

Meine ersten drei Mitbewohnerinnen

Sie waren ungefähr so alt wie ich, da aber die tadschikische (wie auch die kirgisische) Schulen nur elf Schuljahre haben, sind sie bereits im 4. Semester eines Wirtschafts-Studiums. Wer von den Grenzkonflikten zwischen Kirgistan und Tadschikistan schon gehört hat, kann sich denken, dass sie es nicht immer einfach haben. Sie haben mir von ihrem kilometerlangem Trek durch das eisige Grenzgebiet von Tadschikistan nach Kirgisistan erzählt, wo sie mit allem Gepäck entlang der kaum geräumten, verschneiten Grenzstraße gewandert sind, um für das Studium nach Kirgistan zu kommen. Der Flug war derzeit nicht möglich, auch kein Auto durfte die Grenzstraße passieren. Als der Konflikt im Bakten (Grenzgebiet zwischen Tadschikistan und Kirgistan) wieder aufflammte, war es gefährlich in der Öffentlichkeit in ihrer Muttersprache zu reden oder sich als Tadschiken preiszugeben. Alles reichlich Material für lange Abende mit interessanten Gesprächen, die oft in politischen Diskussionen endeten. Sie hatten ihre Meinungen, Erfahrungen aus ihrem Heimatland und haben ihre Gedanken und Geschichten offen mit mir geteilt. In dieser Zeit habe ich vieles über Zentralasien gelernt. Leider verließen die drei unsere WG für ein Auslandssemester. Für eine neue zweier-WG, in einem ehemaligen sowjetischen Plattenbau im achten Stockwerk, habe ich eine Zimmergenossin mit Hilfe meiner vorherigen Mitbewohnerinnen gefunden. Sie kam gerade von einem Auslandsemester in den USA zurück nach Bischkek und ist auch Tadschikin. Als Soziologiestudentin hatten wir plötzlich andere und teils tiefgründige Themen, wiederum eine andere Sicht auf die Dinge. Zusammen mit Freunden, haben wir manche Tages- oder Wochenendtouren unternommen. 

Plattenbau der 2. Wohnung – das Äußere täuscht!
Treppenaufgang zum 8. Stockwerk
Küche mit Plattenherd!
Keine Betten – Wir schlafen bequem mit kirgisischen Schlafteppichen.

Interessant war für mich die Erkenntnis in einer Stadt mit so vielen verschiedenen Nationalitäten, Religionen und Kulturen, die friedliche Co-Existenz. Eine Seite Kirgistans, die man neben der wunderschönen und erfolgreich vermarkteten Natur, schnell übergeht. Aber Kirgistan ist ein multi-kulturelles und multi-religiöses Völkergemisch. Kirgisen (ca. 75%), Usbeken (ca. 15%), Russen (ca. 5%), gefolgt von Minderheiten wie der Dunganen, Uiguren, Tataren, Koreaner und 7886 Deutscher (2022) teilen sich das Land. Sunnitische Muslime machen ca. 75% der Bevölkerung aus, 20% russisch-orthodoxe Christen und weitere Religionen, darunter Judentum oder Buddhismus, sind verbunden mit den Traditionen und Bräuchen des Tengrismus. Der traditionell religiöse Glauben der ethnischen Kirgisen dessen Bestandteile Animismus, Schamanismus, Totemismus usw. sind. So viele Unterschiede und trotzdem eine Nation, die sich nicht von innen heraus zerfleischt? Kirgistan lebt es vor – wir haben es in unserer WG im Kleinen nachgelebt. 

Obwohl wir in unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen sind, ist man sich ähnlicher als man denkt. Jugendliche, die einen eignen Weg suchen, über die Arbeit und das Studium mal mehr mal weniger fluchen und ein Treffen mit Freunden im Park oder Coffee-Shop, oder einen Spieleabend in der Bar für nichts in der Welt hergeben würden.

Schließlich haben Probleme mit der Wohnung und unfreundliche Vermieter schnell ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen. Wir hatten unseren gemeinsamen “Feind”. Im ersten Monat fehlte uns plötzlich für ein paar Tage warmes Wasser (bei Arbeiten in einer einzelnen Wohnung wird gerne einfach für den gesamten Wohnblock die Leitung zugedreht). Zwischendurch wurde auch der Strom für Tage abgestellt, da der Besitzer vergessen hatte alte Rechnungen zu begleichen. Und der Gasofen war sein eigenes Minenfeld. Gemeinsam hüteten wir uns vor einer älteren Dame zwei Wohnung weiter, die anfangs stur behauptete, sie hätte unser Apartment vor unserer Ankunft geputzt und wir müssten nun bezahlen. Die Staubkrusten auf dem Fensterbrett und speckige Beläge in der Küche, welche wir in unseren ersten Tagen in der Wohnung mühsam wegschrubbten, erzählten eine andere Geschichte. Am Schluss war es nach einem Gespräch mit dem Besitzer nur ein Missverständnis.

Abwechselnd haben wir gekocht – meist mit frischem Gemüse vom Wochenendmarkt nur ein paar Straßen weiter. Ich habe die Kunst des “Plow” einem in Zentralasien verbreiteten Reisgericht mit Karotten und Hühnchen kennengelernt. Sonst machten wir oft einfachere Suppen mit Gemüse, Linsen, Reis oder Nudeln. Mir wurde die tadschikische bzw. kirgisische Version unseres Kaffee und Kuchen bzw. der moderne Snack hier gezeigt. Schwarze Teeblätter in Milch aufgekocht, eine Prise Salz hinzugegeben wird das Getränk mit Lepjöschka genossen, ein typisch kirgisisches rundes Brot. Ich kenne zwar den indischen Chai (starker schwarzer Tee mit Milch), aber die unterschiedlich Zubereitungsart hat doch den Geschmack sehr verändert, man muss es mögen oder die Zunge an den Geschmack gewöhnen.

Große Auswahl beim Wochenmarkt. Von Gemüse und Obst, über Honig, zu frischem Fleisch und Fisch.

Aber kommen wir zurück zu den Gruselgeschichten des WG-Lebens: Ich habe keine Ahnung von den restlichen Millionen WGs auf dieser Welt, aber hier in Bischkek musste ich nach den Socken in der Ecke suchen. Pünktlich nach dem Frühstück am Samstag teilten wir jede Woche untereinander die Zimmer auf und erledigten den Wochenputz (im staubigen Bischkek auch dringend nötig). Die Wohnung war immer sauber und gelebt-aufgeräumt, bis auf die Tage mit wichtigen Veranstaltungen oder Festen an der Universität oder in ihrer Community – dann schlug die Bombe im Schlafzimmer mit dem Kleiderschrank ein. Aber das kennen wir ja. Das Einzige, was ich dann doch vermisste, war das eigene, nur mir selbst gehörende Zimmer. Aber wir arrangierten uns, jeder konnte sein Ruhe finden. 

Was soll ich sagen – es waren WGs ganz unterschiedlicher Kulturen mit normalen Jugendlichen und einem normal WG-Leben. Manchmal habe wir uns gefragt, warum es immer so viele Probleme anderorts gibt, wenn das Zusammenleben als Pamiri und Christ, Deutsche und Tadschike doch so einfach ist.

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